Ich habe mein Geburtsland gegen starke Widerstände offizieller Stellen verlassen, 1979, als noch niemand an die sog. Wende dachte. Ich bin in ein Land gegangen, in dem meine Muttersprache gesprochen wird und ich insoweit nicht viel Neues lernen musste. So gesehen hatte ich es leicht. In der Nr. 250 der »die horen« finde ich folgende Textpassage von Ulrich Faure in seinem Artikel über Literaturzeitschriften im Exil während der Zeit des sog. Dritten Reiches, in dem es auch darum geht, wieso man nach der Machtergreifung durch Hitler in Deutschland geblieben ist.
»Man versetze sich in folgende Lage: Wir sind um die 50 oder 60 herum, seit Jahren erfolgreich und anerkannt im Beruf, unsere Fremdsprachenkenntnisse sind bestenfalls die eines Touristen, um die Verlängerung unseres Reisepasses kümmern wir uns immer erst, wenn er abzulaufen droht oder manchmal auch später, über Auslandskonten verfügen wir nicht, wohl aber über ein kleines finanzielles Pölsterchen und eine angenehme Wohnung mit sorgfältig zusammengetragener Bibliothek, an Auslandsbekanntschaften haben wir die Adressen der Wirtsleute, bei denen wir gelegentlich Urlaub machen. Ein Auto steht vor der Tür, wir haben eine Reihe unverzichtbar erscheinender Bedürfnisse und Gewohnheiten. Kurz: Alles ist in schönster Ordnung und Bequemlichkeit. Nun stellen wir uns vor, dass wir plötzlich vor der Entscheidung stünden, all das ohne langes Nachdenken – genauer, über Nacht – aufzugeben, nur weil eine politische Clique, über deren absolute Dämlichkeit wir im trauten Kreise immer wieder herzlich gelacht und den Kopf geschüttelt haben, plötzlich an die Macht gekommen ist. Wir wissen nicht, wie lange sie sich halten können, wir wissen nur: Unser Pass läuft bald ab, schlechte Voraussetzungen also, für längere Zeit ins Ausland zu verschwinden, Geld dürfen wir nicht mitnehmen, Fremdsprachen können wir nicht, Jobs liegen auch im Ausland nicht auf der Straße, und die meisten Freunde und Verwandten verhalten sich eher abwartend … «
Dieses »Gedankenspiel« kann man in abgewandelter Form auch verwenden, wenn es darum geht, warum nicht alle, die es früher oder später erkennen mussten, was sich da entwickelte bzw. entwickelt, nicht die DDR verlassen haben – oder heute nicht Russland, Weissrussland, Ungarn, den Iran, diverse arabische Staaten usw. verlassen.
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